= 23739. Für jeden hier ganz sicher eine nichtssagende Zahl bzw. Wert, für mich aber bedeutet sie
heute etwas ganz besonderes, denn seit 23739 Tagen steht bei uns ein und derselbe Wagen in der Garage.
Und er hat noch immer das gleiche Kennzeichen, das ihm vor 65 Jahren zugeteilt worden ist.
Es handelt sich um einen Mercedes.
Am 31.März 1958 nahm mich mein Vater mit in die Nürnberger Niederlassung, um unseren ersten
neuen Mercedes, einen steingrauen 219, abzuholen. Während der Verkäufer ihm noch die einzelnen
Funktionen erklärte, saß ich auf der Rücksitzbank und sog diesen unvergleichlichen Geruch ein, den
Neuwagen so in den ersten Tagen verströmen.. Meine spontane Platzwahl war rechts hinten und so
blieb es dann auch für die nächsten 11 Jahre. Von hier aus hatte ich nämlich den besten Blick nach
vorne und ich lernte sehr schnell: 1. Gang nur zum Anrollen, mit dem 2. Gang max. 40 kmh, dann
den 3. Gang bis etwa 65 kmh und auch in der Stadt ruhig immer den 4. nehmen - der kräftige
Sechszylinder schafft das mühelos, er mag untertouriges Fahren! Der Blinker befindet sich im
Hupring und links vom Lenkrad wird die Lichthupe betätigt. So tat ich es als kleiner Junge hinten
dem Fahrer nach.
Im Sommer 1969 wechselte ich dann von rechts hinten nach links vorne und dabei ist es bis heute
geblieben.
Mein Auto und ich haben nahezu die gesamte Geschichte der Bundesrepublik zusammen erlebt:
alle bisherigen Kanzler von Adenauer, Ehrhardt, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel
bis Scholz. Weitere bedeutende Stationen unserer Gemeinsamkeit: der Kalte Krieg, das sog. Wirtschaftswunder,
und die Wiederaufbauphase, Mauerbau 1961, die Studentenrevolte 1968, die neue Ostpolitik mit Aussöhnung
1972, Sonntagsfahrverbote 1973, Kanzlersturz 1976, Nachrüstungsbeschluss 1986, Wiedervereinigung 1989,
Frühjahr 2001 DM ersetzt durch Euro, und Unzähliges mehr, um in der Innenpolitik zu bleiben.
Auch Privat war er immer ein zuverlässiger Begleiter während all der Höhen und Tiefen eines Lebens:
bei den ersten Liebschaften auf den Liegesitzen, beim nicht ausbleibenden Liebeskummer, mit ihm der Start
in das Berufsleben, später als Hochzeitsauto, als Nutzfahrzeug beim Hausbau, die Geburt der KInder erlebte er
in der Garage. Wir nutzten ihn bei den Beerdigungen des besten Jugendfreundes und auch von Vater und Mutter,
schließlich die Beendigung des Berufslebens. Er hat uns in den 50ern und 60ern jedes Jahr ohne Pannen nach
Österreich und Italien gebracht und zuletzt in die Schweiz ins Berner Oberland. Wir machten all die Jahre über
sowohl spontane als auch geplante Kurzreisen und ab und zu auch Ausfahrten mit guten Freunden, die die
gemeinsamen Interessen an alten Autos intensiv erleben so wie wir.
Den Kaufvertrag und die Kaufbestätigung seitens Mercedes Benz, das Datenblatt und die Unterlagen für das
Becker -Europa-Radio fanden sich vor einigen Jahren im Tresor, ebenso das 2. Scheckheft mit penibel aufgelisteten
Wartungen durch Mercedes Vertragswerkstätten. Das alles hat sich merklich auf die Lebensdauer des Wagens ausgewirkt.
Einige am Ende ihrer Lebenszeit ausgetauschte Erstausrüstungsteile wie verschlissene Stoßdämpfer und Hinterachsfedern
etc. wurden uns damals mitgegeben und liegen heute noch in der Garage, daneben der Beutel mit Schneeketten und die
4 Spikes vom Silvesterurlaub 1965 in Österreich. Die originalen schweren Blechnummernschilder hängen an der
Garagenwand, das vordere zeigt Spuren eines langen Lebens.
Seinen 50. Geburtstag hatten meine Frau und ich seinerzeit ihm zu Ehren mit einer kleinen Ausfahrt und einem
feinen Abendessen gefeiert.
Heute Abend werden wir seinen 65. wiederum bei einem Abendessen verbringen, diesmal mit der gesamten Familie,
also schon mit Enkelchen. Vielleicht werden wir dabei, wenn es sich irgendwie ergibt, darüber sprechen, wer denn
den 219 übernimmt. Ganz sicher bin ich, er wird dauerhaft in der Familie bleiben.
Jedenfalls soll er mich überleben!
Und ich werde ab jetzt hoffen und wäre stolz, wenn ich seinen 75. Geburtstag noch mit ihm feiern dürfte.
Mein Platz wird dann allerdings wieder hinten rechts sein, so wie es vor 569.736 Stunden einmal begann.
So sieht es halt der Kreislauf des Lebens vor.....
Carl