Reisebericht: Im 220SE nach Portugal

  • Hallo Zusammen


    Nach einigem Überlegen, ob ich das in solchen Zeiten überhaupt öffentlich kundtun soll, tue ich es nun doch.


    Es war schon lange mein Traum, eines Tages im selbst restaurierten Altbenz nach Portugal zu fahren. Ich habe Familie dort, auch einen bald 90-jährigen Grossvater, was unter anderen Einfluss darauf hatte, die Reise nicht weiter zu verschieben. Portugal war noch nicht auf der Liste, meine geplante Strecke führte vorbei an allen Zentren, nur über Land und so fuhr ich am 17. September alleine los, 4 Wochen Auszeit, knapp 6000km Hin- und Rückweg lagen vor mir.


    Die Fahrt quer durch Westeuropa gehört zu meinen prägenden Kindheitserinnerungen, wir sind früher mindestens einmal pro Jahr von München nach Lissabon gefahren, wobei "meine" erste Fahrt, so erzählte man mir, im väterlichen 180D Ponton stattfand, irgendwann 1973. Damals befand sich Spanien in Isolation unter Franco-Regime, Portugal war ebenfalls noch Diktatur unter Salazar, es gab streng bewachte Grenzen, viele schlechte Strassen und wenn man von München über Österreich/Bregenz, Schweiz, Frankreich und Spanien nach Portugal fuhr, brauchte man sechs verschiedene Geldbeutel mit DM und vorgewechselten Schillingen, Franken, Francs, Peseten und Escudos. Ob ich das heute noch möchte, weiss ich nicht, will es aus nostalgischen Gründen aber festhalten.

    2020 fahre ich lediglich mit einer Visakarte, allerdings mit sehr vielen Ersatzteilen für den 220SE los.


    Das Reisen allein bin ich nicht recht gewohnt. Weil es aber a) auch ein Familienbesuch werden soll, ich b) mein Portugiesisch wieder auffrischen will und es c) beruflich kaum anders geht, kommt meine Partnerin zunächst nicht mit auf die Reise (sie wird mich aber die letzte der 4 Wochen und auf der die Rückfahrt begleiten).

    Die vielen stillen Stunden - sofern man die Sturmgeräusche im stets offen gefahrenen Coupé ignoriert - entschädigen dafür mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf Strasse, Landschaft, Licht und Himmel.


    Ich wähle die Route etwas anders als meine Eltern früher, zumal ich ja schon lange nicht mehr in München wohne, sondern nahe bei Zürich/CH. Über Basel gehts nach Frankreich, ich nehme die Landstrassen, fahre über die Region Jura/Doubs nordwestlich an der Schweiz vorbei, streife das Burgund, dem ersten Zwischenziel in der Nähe von Moulins in der nördlichen Auvergne entgegen, gut 500km für die erste Etappe. Ständig begleitender Eindruck: die Strassen sind erstaunlich leer, ein Eindruck, der sich in den kommenden Tag noch verstärken wird, fast schon unheimlich. Reisen während Corona, sehr gemischte Gefühle machen sich breit.


    Von hochsommerlicher Hitze bei der Abfahrt komme ich am zweiten Tag in Starkregen - Coupé jetzt ausnahmsweise zu - und beende Tag zwei am Nordfuss der Pyrenäen, esse in einem verwunschenen, französischem Landhaus geschützt vom Regen draussen, es ist immer noch erstaunlich warm. Über 600km, der letzte Teil bei Regen und Dunkelheit, schlauchen einem im Hebckflossencoupé doch etwas mehr als im moderneren Alltagswagen. Dafür kommt langsam echte On-the-Road-Stimmung auf, bin fast versucht, die Fahrerhandschuhe neben den sehr leckeren Rotwein auf den Tisch zu legen, lasse es aber aufgrund drohendem Unverständnis der anderen Gäste bleiben, zumal ich auf französisch ohnehin nicht erklären könnte, was auf deutsch schon schwer genug ist.


    Am Tag drei schliesslich komme ich in trockenes Rückseitenwetter, klar und kühl, Sonne und Wolken wechseln sich ab, grandioses Licht schafft fast surreal anmutende Landschaften, zwangsläufig kommen einem Salvatore Dalis Bilder in den Sinn. Es geht nun über die Pyrenäen und auf die Hochebene Kastiliens. Der dritte Fahrtag wird auch der längste: ca. 750 km am Stück sind ermüdend. Der relativ schnell sinkende Ölstand des M127 aber hält mich wach und zwingt dazu, wenigstens alle 250km anzuhalten und zu kontrollieren, was auch zum Beinevertreten und für Streckübungen mitgenutzt wird. Da ich einen 82l-Tank verbaut habe, reicht die sonst übliche Ölkontrolle beim Tanken nicht mehr aus, denn nach 750km wäre der Stand weit unter Minimum. Am Ende der Reise werde ich einen durchschnittlichen Ölverbrauch von ca. 2.5l auf 1000km ermitteln. Dagegen ist der Spritverbrauch mit 11l mustergültig.


    Am Ende der vierten Etappe endlich ist es soweit: ich stelle den zwar ölgierigen, aber ansonsten völlig zuverlässig laufenden 220 am Rande des Atlantiks ab. Nun lasse ich nur noch ein paar Handybilder (man möge die miese Qualität verzeihen) sprechen. Rückfahrt in fast umgekehrter Reihenfolge, aber nun mit Begleitung und dem obligatorischen Mehrgepäck - auch das kein Problem.



    Und schliesslich: nein, keine Ansteckung. Ich hatte während dieser vier Wochen weniger menschliche Kontakte als in meiner Arbeit an einem Vormittag.


    C-negativ

    Herzlich

    Paul

  • Hallo, Paul,


    Glückwunsch zur Entscheidung für diese tolle Tour. Grandios! Phantastische Bilder, insbesondere das letzte SW-Foto! Das ist noch einmal eine späte, aber verdiente Belohnung für deinen damaligen Restaurierungsaufwand incl. des Schiebedachdramas! Da möchte man auch gleich los...


    Würde mich über weitere Fotos freuen!


    Gruß aus dem Münsterland vom damals zeitgleich 220 SE- restaurierenden


    Ulli

    230 SL 10/63
    220 SE 07/64
    - irgendwas ist immer...
    ----------------------------------------------------------
    vdh-Regionaltreff Münster/Münsterland
    jeden 3. Mittwoch ab 19.30 Uhr im RoadStop,
    48157 Münster, Schiffahrter Damm 315


    www.pagodentreff.de

  • Moin Paul,

    top!

    Danke für diese Story und die herrlichen Bilder!

    Demnach hast Du die mitgenommenen ET gar nicht gebraucht. OK, das ist ja auch normal, dass man genau diese Teile nie braucht - aber sonst scheinbar auch keine Panne, sehr gut!

    Wie Ulli ganz richtig anmerkt, ist diese Reise doch somit eine bestmögliche Wiedergutmachung für all den Stress den Du während der Restauration hattest.


    Beste Grüße,

    Lutz

  • Hi Ulli, Hi Lutz


    SO manches Mal dachte ich tatsächlich an die Rückschläge während des Neuaufbaus. Auch hinsichtlich Zuverlässigkeit machte ich mir anfangs viele Gedanken. Jetzt habe ich mit all diesen Dingen meinen Frieden gemacht. Ok, der Motor ... da kommt was auf mich zu. Aber was wäre dieses Hobby ohne neue Herausforderungen.


    Hier noch ein paar Bilder



  • Hallo Paul,


    wunderschön, danke fürs Teilen! Klar darf man das machen; etwas Vorsicht walten lassen und auf geht's. Wir haben ja im W111 auch schon viele Urlaube gemacht; da das Automatikgetriebe ölt, ebenso der Motor (inkl. Kühlwasser), ist er seit einer Woche beim Motorenbauer. Auftrag: Für unsere Restlebenszeit keine Probleme mehr an Motor und Getriebe und viele Urlaubsreisen! ;)


    Beste Grüße und weiterhin gute Fahrt

    Thomas

    • Official Post

    Hallo Paul


    Das ist der gerechte Lohn für die harte Arbeit die Du geleistet hast. Nun hat sich auch Dein neues (Schiebe-) Dach bewährt und der Aufwand ist vergessen. Natürlich kann und muss man solche wunderbaren Storrys/Bilder in diesen Zeiten veröffentlichen. Danke dafür!


    Schön dass Du wieder gesund und wohlbehalten zuhause bist.


    Gratulation und Doppelsrepekt!

  • Paul,


    wie wäre es denn mit einem ausführlichen Reisebericht in den nächstem Flosskeln? Irgendwie schreit das förmlich danach...


    Gruß


    Ulli

    230 SL 10/63
    220 SE 07/64
    - irgendwas ist immer...
    ----------------------------------------------------------
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    jeden 3. Mittwoch ab 19.30 Uhr im RoadStop,
    48157 Münster, Schiffahrter Damm 315


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  • Was Schöneres wie mit einem handgeschalteten W111 Coupé durch Europa zu fahren gibt es einfach nicht! Gratulation! Und da nicht das Reisen das Problem ist, sondern zu viele Leute auf einem Haufen, spricht auch jetzt nichts dagegen.


    In Portugal war ich zuletzt 1996 (damals mit einem 200D W123), damals fand man noch Flossenkombis von Santos irgendwo in der Einöde vor sich hin rostend...


    Eine Frage noch, Paul, welches Reisetempo mutest Du dem 220er auf Autobahnen zu? 130 oder weniger? Serienmäßige Achsübersetzung 4.1?


    Grüße

    bacigalupo

  • Mensch Paul,


    das ist ja wunderbar! Was für eine gute Reise, mit diesem traumhaft schönen Wagen zu deinem 90-jährigen Großvater nach Portugal zu fahren.

    Danke für die herrlichen Bilder - du hast einen fotographischen Blick - und danke für diesen Bericht, gerade in "solchen Zeiten"! :thumbup:


    Gruß


    Alexander

  • Eine Frage noch, Paul, welches Reisetempo mutest Du dem 220er auf Autobahnen zu? 130 oder weniger? Serienmäßige Achsübersetzung 4.1?

    Hi Bacigalupo


    ich musste ihm phasenweise echte 120, also Tacho ca 135 zumuten, bei serienmässiger HA. Das war gegen Ende der langen Spanienertappe - ich musste einfach irgendwann mal ankommen. Bei gesunder Maschine ja auch kein Problem, aber mit meinem ausgelutschtem Block ergab das auch den Ölverbrauchsrekord.

  • Hi Paul,

    schön, dass ihr wieder wohlbehalten zurück seid...


    Wir hamms doch gesagt... der kann das.


    Einfach machen. Alte Autos sind zäh und laufen (fast) immer irgendwie, die mordernen sind eben digital ok oder Stillstand. Dazwischen gibts nichts.

    Gruß


    Uli aus S


    Übersteuern ist, wenn der Beifahrer Angst hat.

    Untersteuern ist, wenn ich Angst habe.

    - Walter Röhrl -

  • Herrlich, vielen Dank! Portugal steht ganz oben auf der Liste für einen Urlaub mit dem W123 bei mir, deine Bilder machen Vorfreude.


    Gruß dieselflo

    W123 200D 3.0, 737, 9/82, 478 tkm, Eriba-Zugwagen März - November

    demnächst: Toyota Previa XR10 2.4 1992, 98.000 km, Alltag I
    Mazda MX 5 NBFL 1.6, 145 tkm, Alltag IIa

    W123 230, 406, 12/78, 235 tkm, Alltag IIb

    Bulls Sturmvogel Evo 10, Alltag I Nahverkehr


    http://www.kanzlei-für-versicherungsrecht.com

  • ja Florian, und auf dem Weg nach Portugal kannst Du Dir dann beim französischen Verwerter noch das fehlende 5-Gang für Deinen 200D 3.0 einladen. Die sind dort nicht teuer, weil weit verbreitet.


    Ich wüßte da einen Verwerter im Zentralmassiv an der N88, der hatte sogar noch zwei Flossen rumverwesen. In der französ. Provinz bleiben die Karren einfach stehen, wegwerfen macht zu viel Arbeit, und solange man Platz hat...



    Grüße

    bacigalupo

  • Ich könnte ja auf jeder Fahrt zwei Fünfganggetriebe in den Kofferraum legen und mit dem Erlös nach und nach die nächste Radlaufsanierung finanzieren:)


    5-Gang hätte schon was, aber gerade mit Wohnwagen ist das leise, gut schaltbare und mit 450.000 km langsam eingefahrene 4-Gang-Getriebe perfekt...


    Gruß dieselflo

    W123 200D 3.0, 737, 9/82, 478 tkm, Eriba-Zugwagen März - November

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    W123 230, 406, 12/78, 235 tkm, Alltag IIb

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  • Ein Traum, vielen Dank für den schönen Bericht und die schönen Bilder. Eine Europatour mit dem 111er ist auch noch mein Traum und obwohl ich bei fast 50.000km erst zwei mal wirklich liegen geblieben bin hält mich die Angst vor Pannen davon ab.


    Und auch wenn meine Farbe etwas heller ist, finde ich den Ton einfach perfekt für das Auto.


    Kompliment, toll gemacht.


    BG Ralf

  • Ne Panne kann man doch mit jedem Auto mal haben...wenn Du deinen gut pflegst, und die Reise nicht direkt nach einer mehrjährigen Standzeit startest, warum sollte das besonders riskant sein?


    In ca. 80.000 km mit dem W123 und Wohnwagen quer durch Europa musste ich unterwegs noch nie in die Werkstatt und habe auch noch nie den ADAC angerufen. Einmal nen Nagel im Reifen gehabt, einmal Bremssattel hinten bisschen gängig gemacht mit im italienischen Baumarkt gekaufter Zange und Böcken, das war das Aufregendste in technischer Hinsicht. Oder mal den Tempomaten abklemmen, wenn er hakt, bzw. länger Startversuchen, wenn die Glühkerzen gleichzeitig versterben, aber ich bin bisher immer aus eigener Kraft zurückgekommen.


    Das Auto sperrt dich wenigstens nicht aus, weil plötzlich die Wegfahrsperre spinnt, öffnet nicht im Landregen alle 4 Fensterheber von selbst und hupt nicht nachts den Campingplatz wach, weil ein Spatz die Alarmanlage auslöst....


    Gruß dieselflo

    W123 200D 3.0, 737, 9/82, 478 tkm, Eriba-Zugwagen März - November

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    W123 230, 406, 12/78, 235 tkm, Alltag IIb

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  • Eine Europatour mit dem 111er ist auch noch mein Traum und obwohl ich bei fast 50.000km erst zwei mal wirklich liegen geblieben bin hält mich die Angst vor Pannen davon ab.

    Hallo Ralf

    Die Angst hatte ich schon auch, diese habe ich aber eher auf mein voranschreitendes Alter als auf das des Autos zurückzuführen. Man wird irgendwie betulicher. Wenn ich denke, mit was für Möhren wir früher losgefahren sind ... Auch deswegen fand ich: das wird jetzt gemacht! Und jetzt habe ich wieder dieses Urvertrauen, das ich mit der Zeit bei allen meinen Oldies „erfahren“ habe.